Produkte, die keiner braucht

29.05.2020
Gerhard Schick

Gerhard ist promovierter Volkswirt, ehemaliges Mitglied des Bundestages, Mit-Initiator des Vereins und dessen geschäftsführender Vorstand. Er hat sein Bundestagsmandat für die Arbeit in der Nichtregierungsorganisation zum 31.12.2018 niedergelegt. Hier finden Sie seinen Lebenslauf, ein Pressefoto und ein alternatives Pressefoto.

Grimmig blickende Katze und Hund schließen Vertrag vor einem Sparkassen-Logo neben dem Schriftzug "Achtung Zertifikate" ab

Es gibt so manches Produkt, das vor seiner Markteinführung kein Verbraucher je vermisst hat, und das dann doch hinreichend Abnehmer findet. Weil geniale Verkäufer es wortreich schönreden. Sogenannte Zertifikate zum Beispiel, die unter anderem in deutschen Sparkassen verkauft werden.

Zertifikate sind Wertpapiere, die von einem Finanzakteur wie der Sparkassentochter DekaBank oder der Deutschen Bank ausgegeben werden. Bei einem Zertifikat investieren Anleger und Anlegerinnen nicht direkt in ein Unternehmen oder Ähnliches, sondern sie wetten auf ein bestimmtes Ereignis während einer festgelegten Laufzeit. Etwa auf die Kursentwicklung einer Aktie. Am Ende der Laufzeit wird in der Regel eine Summe zurückgezahlt, die sich danach richtet, ob die Wette aufging oder nicht.[1]

Zertifikate sind häufig Produkte mit ungeahnten Risiken

Die Risiken sind oft erheblich, das wird gerade in Zeiten der Corona-Krise deutlich. Und geht der Herausgeber eines Zertifikats vor Ende der Laufzeit beispielsweise pleite, droht sogar der Totalverlust. Das ist nicht nur eine theoretische Gefahr. Als 2008 die US-Investmentbank Lehman Brothers unterging, stellten Zehntausende deutsche Kleinanleger fest, dass sie irgendwann einmal Zertifikate dieser Bank gekauft hatten und nun um ihre Ersparnisse bangen mussten. Darunter waren viele Menschen im Rentenalter. Die Empörung war groß, wie diese schwer verständlichen Produkte den Weg ausgerechnet zu Sparern gefunden hatten, die zuvor ihr Geld meist sehr sicher angelegt hatten.[2]

Als Konsequenz wollte die CDU/CSU-Fraktion 2009 den Vertrieb an Kleinanleger zumindest teilweise untersagen[3], so wie das auch in anderen Ländern der Fall ist[4]. Doch sie scheiterte an ihrem Koalitionspartner, damals noch die FDP. So blüht das Geschäft weiterhin. Es gibt Bonus-Zertifikate, Discount-Zertifikate, Express-Zertifikate, DuoRendite-Aktienanleihen und vieles mehr. Weit über eine Million solcher Produkte zählt der Deutsche Derivate Verband[5], der Gesamtmarkt für Zertifikate in Deutschland beträgt heute rund 71 Milliarden Euro[6].Die Sparkassentochter Deka Bank stieg erst 2013[7] – fünf Jahre nach dem Lehman-Skandal – richtig in den Markt ein, heute ist sie mit einem Anteil von mehr als 20 Prozent Marktführerin[8]. Nimmt man die Landesbanken dazu, deren Miteigentümer die Sparkassen sind und die ebenfalls Tausende Zertifikate ausgeben, kommt man gar auf einen Marktanteil der Sparkassen von rund 50 Prozent[9].

Der Verkauf ist wohl von Intransparenz und mangelndem Verständnis geprägt

Aber warum kaufen Anleger so etwas heute noch? Wahrscheinlich geht kaum jemand zur Bank und sagt »Hallo, ich möchte bitte ein Zertifikat.« Nein, Frau Müller oder Herr Meier bekommen diese Produkte in Verkaufsgesprächen am Schalter untergejubelt.[10]

Während die Kunden Inhalt, Risiko und Kosten der Produkte oft nicht verstehen dürften, können die Banken durch diese Intransparenz Kosten verstecken. So werden in den Sparkassen auch Produkte verkauft, die auf fragwürdige Art auf die Entwicklung der institutseigenen Fonds setzen[11] oder die haarscharf an einem eigentlich notwendigen Produktverbot durch die deutsche Finanzaufsicht vorbeigerauscht sind.[12] Und in den Corona-Turbulenzen an den Börsen stürzte selbst ein Zertifikat mit so wohlklingendem Beinamen wie Relax binnen weniger Tage ab. Zwischenzeitlich lag das Minus bei mehr als 60 Prozent im Vergleich zum Ausgabepreis.[13] Mit dem Relaxen war es da wohl bei vielen vorbei.

Als Vorstand von »Finanzwende« empfehle ich Anlegern, nicht in Zertifikate zu investieren, wenn sie sie nicht verstehen.

Aber es stellt sich auch die Frage, ob Sparkassen, die laut Gesetz dem Gemeinwohl verpflichtet sind, intransparente Finanzprodukte vertreiben sollten, die ihre Kunden nicht durchschauen. Wir meinen: Nein, Frau Müller braucht kein Zertifikat. Und Herr Meier auch nicht.

Dieser Blogbeitrag erschien zuerst in der SPIEGEL-GELD Kolumne (Beilage der Ausgabe Nr.20 vom 9.5.2020). 


[1] https://www.derivateverband.de/DEU/Wissen/Lexikon#z (Stand: 26.03.2020)

[2] https://www.spiegel.de/wirtschaft/service/finanzkrise-bundesgerichtshof-verhandelt-ueber-klagen-der-lehman-omas-a-788519.html (26.03.2020)

[3] https://www.dasinvestment.com/cdu-will-zertifikate-verbieten/ (Stand: 26.03.2020)

[4] https://www.sueddeutsche.de/geld/lehman-pleite-dummes-deutsches-geld-1.398707 (Stand: 26.03.2020)

[5] https://www.derivateverband.de/DE/MediaLibrary/Document/DDV-Report_2019_online.pdf

[6] https://www.derivateverband.de/DE/MediaLibrary/Document/Statistics/2020/20%2003%2019%20DDV%20Marktvolumen%2001%202020.pdf (Stand: 26.03.2020)

[7] https://www.fondsprofessionell.de/news/produkte/headline/dekabank-startet-zertifikate-offensive-107103/ (Stand: 26.03.2020)

[8] https://www.derivateverband.de/DEU/Statistiken/Marktanteile_nach_Marktvolumen (Stand: 26.03.2020)

[9] https://www.derivateverband.de/DEU/Statistiken/Marktanteile_nach_Marktvolumen (Stand: 26.03.2020)

[10] https://www.finanz-szene.de/banking/10152/ (Stand: 26.03.2020)

[11] https://www.berliner-sparkasse.de/de/home/privatkunden/deka-investments/deka-zertifikatsprofil.html?isin=DE000DK0KFS2&n=true (Stand: 26.03.2020)

[12] https://zertifikate.deka.de/Bonitaetsanleihen (Stand: 26.03.2020) UND https://www.bafin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Pressemitteilung/2016/pm_160728_bonitaetsanleihen_allgemeinverfuegung.html (Stand: 26.03.2020)

[13] https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/geld-anlage-coronavirus-1.4853546?reduced=true (Stand: 26.03.2020)