Derivate in Hessen Milliardenverlust für die Landeskasse 04.11.2021 Durch den Einsatz von Derivaten hat Hessen einen Schaden von mehr als vier Milliarden Euro erlitten. Um für die Zukunft zu lernen, bräuchte es umfassende Aufklärung bezüglich der Geschäfte. Diese verhindert die schwarz-grüne Regierung bisher. Es braucht bessere Regeln, damit die öffentliche Hand nicht immer wieder durch den Einsatz komplexer Finanzprodukte massive Verluste erleidet. Mit dem Ziel vor Augen, sich das „historisch niedrige Zinsniveau“ zu sichern, setzte das Land Hessen vor gut zehn Jahren immer mehr auf Derivate. Doch die Rechnung ging nicht auf. Die Zinsen entwickelten sich anders als erwartet. Die Spekulation im großen Stil endete mit einem Milliardenverlust für das Land, der sich auf über vier Milliarden Euro beläuft. Wie viele andere Akteur*innen hat Hessen damit einen sehr hohen Verlust mit komplexen Finanzprodukten erlitten. Die Konstruktion der konkreten Geschäfte wirft viele Fragen auf. Doch die schwarz-grüne Regierung bleibt weiter Antworten schuldig. Deshalb haben die Oppositionsfraktionen im hessischen Landtag SPD, FDP und DIE LINKE in einem von Finanzwende organisierten Pressegespräch nochmal ganz deutlich gemacht, was sie nun erwarten. Hier gibt es die wichtigsten Fragen und Antworten zum Thema, das Hessen sehr teuer zu stehen kommt. Was sind Zinsderivate? Zinsderivate sollen oftmals zukünftige Zinsrisiken absichern. Derivate sind spezielle Finanzmarktinstrumente, deren wirtschaftlicher Ertrag von der Entwicklung des Preises beziehungsweise Kurses eines Basiswertes (zum Beispiel eines Zinssatzes) abhängt. Wenn auf zukünftig gleichbleibende oder gar steigende Zinssätze spekuliert wird, der Zins aber sinkt, geht die Wette verloren und der Wert des Geschäftes geht ins Minus. Warum nutzen Länder und Kommunen Zinsderivate? Länder und Kommunen müssen, wenn sie sich Geld leihen, in aller Regel Zinsen zahlen. Es besteht mitunter ein Interesse, an dieser Stelle Planungssicherheit herzustellen und sich bestimmte Zinssätze zu sichern. Eine kalkulierbare Entwicklung kann für die Länder ein geringeres Haushaltsrisiko bedeuten, zum Beispiel bei unvorhersehbaren Zins-Schwankungen. Natürlich kann sich der Zins aber auch anders als erwartet entwickeln und das Ganze, wie im Fall Hessen, zu einem massiven Verlustgeschäft werden. In der Vergangenheit wurden Zinsderivate aber auch von Kommunen zur reinen Spekulation genutzt. Dadurch sollte versucht werden, zusätzliche Erträge für die öffentliche Kasse zu generieren. Über welchen Zeitraum werden Zinssicherungsderivate abgeschlossen? Das hessische Schuldenmanagement hat Zinssicherungsderivate über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten mit einem Vorlauf von bis zu 10 Jahren, also insgesamt 50 Jahren abgeschlossen. Diese Ausgestaltung des Instruments darf durchaus als extrem ungewöhnlich bezeichnet werden und hat daher keine transparente Preisbildung. Das Ministerium wird zum Price-Taker, dies bedeutet, es muss den Preis nehmen, den es angeboten bekommt. Typischerweise werden solche Geschäfte auf mittlere Zeiträume von vier bis zehn Jahren begrenzt, weil Unternehmen, Länder, Kommunen und Staaten typischerweise Schulden für diese Zeiträume aufnehmen. Wie profitieren Banken von diesen Geschäften? Prozentual schlagen die Banken bei einfachen Zinsderivaten oft nur 0,01 Prozent auf. Das klingt sehr wenig, macht aber auf 8,4 Milliarden Euro bei 40 Jahren Laufzeit 33,5 Millionen Euro für die Banken. Da davon auszugehen ist, dass bei einem langlaufenden und eher illiquiden Instrument wie in Hessen (siehe oben) die Marge eher größer ist (vielleicht 0,05 Prozent), wären es dann schon 150 Millionen Euro. Zusätzlich könnten noch Beratungshonorare für das Zusammenstellen der Gesamttransaktion geflossen sein. Wer macht mit? Die ersten Medienberichte über riskante hessische Derivategeschäfte erfolgten im Jahr 2018, damals nutzen nach Recherchen der Welt lediglich vier Länder keine Zinssicherungsderivate. In 2020 änderte sich das Bild, acht Länder nutzen bis dahin diese Sicherungsgeschäfte, acht Länder taten das nicht. Auch Hessen nutzt aktuell keine Derivategeschäfte mehr. Wie viele Deals gab es? Von 2009 bis 2014 hat Hessen 87 (aus hessischer Sicht) unkündbare „Forward-Payer-Swaps“ abgeschlossen, das Gros davon mit 65 Deals im Jahr 2011 mit einem Volumen von 6,5 Milliarden Euro. Das Gesamtvolumen beträgt 8,4 Milliarden Euro. Das hessische Finanzministerium erhoffte sich, künftige Mehrbelastungen durch steigende Zinsraten zu vermeiden und Zinsausgaben „auf einem für das Land akzeptablen und leitbaren Zinsniveau“ zu halten. Wie hoch ist der Schaden in Hessen? Anfang 2010 lag der Zinssatz für 40-jährige Swaps bei etwa 3,7 Prozent. Zehn Jahre später lag er bei 0,02 Prozent. Hessen vereinbarte Swapgeschäfte mit einer Zinsrate von 2,89 Prozent bis zu 3,67 Prozent. Bis Mitte 2018 waren Forward-Swap-Geschäfte mit einem Volumen von 7,1 Milliarden Euro bereits angelaufen, der nominelle Nachteil aus diesen Geschäften beziffert der Landesrechnungshof auf 2,7 Milliarden Euro, ermittelt durch Vergleich mit marktgängigen Konditionen. Aus den im Zeitraum von 2018 bis Ende 2020 angelaufenen Geschäften mit einem Volumen von einer Milliarde Euro beträgt der nominelle Nachteil laut Landesrechnungshof zusätzlich 1,5 Milliarden Euro. Insgesamt geht der Rechnungshof von einem nicht wieder gutzumachenden Schaden von 4,2 Milliarden Euro aus. Das entspricht rund 19 Prozent des gesamten hessischen Steueraufkommens in 2021. Wie lief die Aufarbeitung bis heute? Der Haushaltsausschuss des Hessischen Landtages befasste sich auf Drängen der Opposition mehrfach mit den in 2018 bekannt gewordenen Derivatedeals des hessischen Schuldenmanagements. Der Landesrechnungshof führte eine Prüfung durch, der Prüfungsbericht vom 3. Dezember 2020 ist online abrufbar. Einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss gab es bislang nicht. Welche Fragen sind noch offen? Auffällig ist das einseitige Kündigungsrecht der hessischen Vertragspartner*innen. Wenn die Gegenseite einseitig kündigen kann, wie kann das Land Hessen dann jemals davon ausgehen, einen Ertrag zu erwirtschaften? Warum hat Hessen im Jahr 2011 Sicherungsgeschäfte für die nächsten 40 Jahre mit bis zu 10 Jahren Vorlauf abgeschlossen? Wie wurden diese Geschäfte angebahnt und wie konnten dabei so denkbar ungünstige Bedingungen für das Land vereinbart werden? Welche Rolle spielten die beteiligten Banken? Welche Profite machten sie mit den Geschäften? Hessen nutzt seit dem Jahr 2014 keine (neuen) Derivategeschäfte mehr und plant diese auch nicht für die Zukunft, soweit nicht die Absicherung von Negativzinsen betroffen ist. Gleichwohl wird behauptet, das hessische Finanzministerium habe alles richtig gemacht. Wie passt das zusammen? Warum gibt es bisher keine sichtbare, kritische und öffentlich nachvollziehbare Auseinandersetzung? Das Land Hessen spricht davon, durch geeignete Gegengeschäfte die eingegangenen Risiken weitgehend neutralisiert zu haben. Das geht nur, indem man der Gegenseite ihre Ansprüche aus den Geschäften auszahlt. Ist das geschehen, wenn ja in welcher Form und wie hoch war die Haushaltsbelastung dafür? Wie hat das Land Hessen die Zahlungsströme in der Buchhaltung des Ministeriums abgebildet? Von einigen deutschen Großkonzernen ist bekannt, dass die Grenze des Derivateeinsatzes dort beginnt, wo die Geschäfte nicht in den eigenen Systemen gespiegelt werden können (weil dann keine Nachverfolgung der Preisentwicklung möglich ist)? Wie viele Mitarbeiter*innen hat die Abwicklung der Swap-Geschäfte gebunden? Was fordert Finanzwende? Es braucht eine lückenlose Aufklärung der Geschäfte, siehe offene Fragen oben. Das ist nötig, um aus den Fehlern zu lernen und Ähnliches in Zukunft zu verhindern. Finanzwende zweifelt an, ob die öffentliche Hand auf Landes- und Kommunalebene überhaupt Derivate im Schuldenmanagement einsetzen sollte. Schließlich ist der Einsatz von Derivaten stets mit Risiken verbunden, die sich bei Vertragsschluss nicht abschließend beziffern lassen. Selbst wenn man den Einsatz unter bestimmten Voraussetzungen für zweckmäßig hält, zeigt sich jedoch ein großer gesetzlicher Nachbesserungsbedarf: Es ist nicht ausgeschlossen, dass große Verluste wie in Hessen auch an anderer Stelle vorkommen können, zumal das Thema in Bund und einzelnen Ländern unterschiedlich geregelt ist. Notwendig ist: Eine Begrenzung der Geschäfte der Höhe nach, um den potentiellen Schaden einzuschränken. Eine sachliche Einschränkung auf die Absicherung bestehender Risiken. Geschäfte zur Erzielung günstigerer Konditionen sind ebenso auszuschließen wie „ähnliche Zwecke“. Eine Begrenzung der Laufzeiten, um auszuschließen, dass Verträge geschlossen werden, deren Laufzeit erst in der ferneren Zukunft beginnt, was ein nicht unerhebliches Risiko mit sich bringt. Ein optimales Monitoring durch fachlich qualifizierte Dritte, die ausschließlich im Interesse der Steuerzahlenden bewerten. Dies kann geschehen etwa durch eine Ex-ante-Kontrolle der Rechnungshöfe, durch eine Konsultation der fachlich versierteren Bundesfinanzagentur oder durch die Bewertung durch Institute/Wirtschaftsprüfer*innen, die keine finanziellen Interessen am Abschluss solcher Geschäfte haben.