Miese Geschäfte ohne Ende?

Eine kleine Geschichte der problematischen Derivate-Geschäfte

04.11.2021
Derivate Hessen

Muss man sich als normale*r Bürger*in mit Derivaten beschäftigen? Eigentlich nicht. Allerdings zeigt die Vergangenheit, dass Bürger*innen häufig ohne es zu wissen, Verlierer*innen am Derivate-Markt wurden – mal direkt bei ihrer eigenen Geldanlage, mal indirekt als Steuerzahler*innen. Und deswegen lohnt es sich, doch einmal genauer hinzuschauen. Das gilt natürlich besonders für Finanzpolitiker*innen. Man muss ja nicht dieselben Fehler wiederholen, mit denen schon andere Milliarden verzockt haben. Deshalb hier ein kleiner Überblick über die traurige Geschichte von problematischen Derivate-Geschäften – ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Anlass sind die Zinsgeschäfte des Bundeslandes Hessen, die viele Parallelen zu früheren Fällen von problematischen Derivategeschäften aufweisen.

1. Orange County 1994

Orange County ist ein Bezirk in Kalifornien mit eher wohlhabenden und konservativen Bewohner*innen. Von der Bevölkerungszahl ist es etwa halb so groß wie Hessen. Die Insolvenz des Bezirks am 6. Dezember 1994 ist Folge von spekulativen Geschäften des Kämmerers Bob Citron, der 24 Jahre lang die Finanzgeschäfte verantwortete.

Im Kern war seine Strategie, bestehende Einlagen des County als Sicherheit für Kredite zu nehmen. Mit dem Geld aus den Krediten investierte er zum einen in langlaufende Papiere, die höhere Zinsen als die Kreditzinsen bringen würden. Das war eine schuldenfinanzierte Finanzinvestition, die vielleicht ein Hedgefonds machen kann, aber sicher nicht die Aufgabe der öffentlichen Hand ist. Ein Finanzvolumen von 7 Milliarden US-Dollar wurde so mittels Schuldenaufnahme auf 20 Milliarden US-Dollar Investitionsvolumen aufgepumpt, ein enormes Risiko. Zum anderen investierte er in Derivate, deren Erträge umgekehrt mit der Zinsentwicklung korrelierten. Im Kern ging es um eine große Wette auf fallende Zinsen, an der Citron offenbar in dem Glauben festhielt, dass nach steigenden Zinsen irgendwann wieder fallende kommen müssten.

Im November 1994 hatte Citron 1,64 Milliarden Dollar verloren, kurz danach musste Orange County Insolvenz angemeldet werden. Citron musste zurücktreten und wurde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Er bezeichnete sich selbst als „unerfahrenenen Investor“ und gab dem Broker von Merrill Lynch die Schuld. Die Klage des Countys gegen Merrill Lynch endete 1998 mit einer Verständigung, bei der die Investmentbank 400 Millionen Dollar zahlte, aber keine Schuld eingestand.

2. Kommunale Swap-Geschäfte in Großbritannien in den 90er-Jahren

In den 80er-Jahren begannen einige britische Kommunen vor dem Hintergrund ihrer schlechten Finanzsituation mit Derivaten-Geschäften. Während einige Kommunen die Geschäfte tatsächlich nur nutzten, um die Risiken von Zinsschwankungen zu vermeiden, ging es bei anderen offenbar um den Gewinn durch entsprechende Finanzgeschäfte. Das war aber natürlich mit höheren Risiken verbunden.

Besonders bekannt wurde das Beispiel von Hammersmith and Fulham London Borough Council. Diese Kommune drehte das ganz große Rad. Das Nominalvolumen der Geschäfte belief sich auf bis zu sechs 6 Milliarden Pfund. Alles war letztlich eine große Wette auf fallende Zinsen. Als dann die Zinsen anstiegen, führte das unweigerlich zu enormen Verlusten. Es darf bezweifelt werden, dass alle Verantwortlichen in der Kommune verstanden haben, dass sie letztlich Bankgeschäfte betrieben, und zwar sehr riskante. Die Verantwortlichen auf Seiten der Banken mussten das aber gewusst haben. Eine Mitarbeiterin von Goldman Sachs löste letztlich dann auch die Untersuchung der Geschäfte aus.

Solche Geschäfte wie von Hammersmith and Fulham London Borough Council waren in den 90er-Jahren Gegenstand von zahlreichen Rechtsstreitigkeiten über mehrere Instanzen. Als das House of Lords schließlich die Geschäfte als nichtig erklärte, mussten Hunderte von Zinsswap-Geschäften rückabgewickelt werden.

Es gibt keinen genauen Überblick über den Schaden auf kommunaler Seite. Aber Banken mussten offenbar 600 Millionen Pfund abschreiben.

3. Kommunale Zins-Ladder-Swaps in Deutschland 2000ff

Über die kommunalen Swap-Geschäfte in Deutschland ist erstaunlich wenig bekannt. Anfang der 2000er Jahre haben offenbar mehr als 200 Gemeinden und im kommunalen Eigentum stehende Unternehmen solche Zinsswaps abgeschlossen, die mit hohen Verlusten endeten. Öffentlich diskutiert wurde vor allem der Fall der Stadt Pforzheim, die 56 Millionen Euro Verlust machte und einen jahrelangen Rechtsstreit mit den beteiligten Instituten führte. Weitere bekannte Fälle sind Hagen und Ennepetal.

Ein Gesamtvolumen ist nicht ermittelbar, weil die meisten Kommunen über geheim zu haltende Vereinbarungen mit den Banken versuchten, aus den verlustreichen Geschäften herauszukommen. Auf Initiative von Gerhard Schick, dem heutigen Vorstand von Finanzwende, führte der Finanzausschuss des Bundestags 2011 eine Anhörung zu dem Thema durch. Doch eine umfassende Aufklärung scheiterte auch an dieser Stelle. Der wahre Umfang bleibt deshalb wohl für immer im Dunkeln. Angesichts der Vielzahl der Fälle und der Größenordnung der bekannten Fälle scheinen Schätzungen von einer Milliarde Euro Schaden allerdings deutlich untertrieben zu sein.

Um was ging es bei diesen Geschäften? Bei den als CMS-Spread-Ladder-Swap (CSL-Swap) bezeichneten Geschäften wetteten die Kommunen letztlich auf eine bestimmte Entwicklung der langfristigen und kurzfristigen (Swap-)Zinssätze. Die Verbindung zu ihrer eigentlichen Verschuldung war nicht mehr vorhanden.  

Bei vielen juristischen Auseinandersetzungen ging es um die Frage, ob Kommunen überhaupt solche Geschäfte tätigen dürfen. Schließlich hatten sie nichts mit der Aufgabe zu tun, öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen. Letztlich scheinen die Gerichte in vielen Fällen diese Position geteilt zu haben. So urteilte zuletzt das Münchner Landgericht mit genau dieser Argumentation zugunsten der Städte Füssen und Landsberg.

4. Weitere Derivate-Geschäfte mit Gebietskörperschaften

Nicht nur deutsche und britische, auch italienische, portugiesische, österreichische und belgische Kommunen haben problematische Derivate-Geschäfte getätigt. In Italien ist das Phänomen, anders als in Deutschland, von staatlichen Behörden aufgearbeitet worden, sodass genauere Zahlen vorliegen: 525 Kommunen schlossen fast 1.000 Zinsswaps in einer Höhe von 35 Milliarden Euro, fast ein Viertel des Schuldenvolumens der subnationalen Gebietskörperschaften in Italien.

5. Zins-Swaps mit mittelständischen Unternehmen

Vergleichbar mit den Swap-Geschäften der Kommunen sind Geschäfte der Banken mit mittelständischen Unternehmen. Auch hier gibt es keinerlei Überblick. Bekannt geworden über einen Rechtsstreit ist der Fall des Papier-Unternehmens Ille GmbH, die im März 2011 gegen die Deutsche Bank vor dem Bundesgerichtshof gewann. Die Bank musste für die Verluste von Ille geradestehen. 

Ein jüngerer Rechtsstreit in Spanien zeigt, dass problematische Derivate-Geschäfte offenbar weiterhin verbreitet sind und bis heute andauern. Die Deutsche Bank musste dem spanischen Weinhändler J. Carcía-Carrión 10 Millionen Euro erstatten. Eine interne Untersuchung bei der Bank führte zur Trennung von mehreren Mitarbeitenden, auch andere Banken scheinen ähnliche Geschäfte gemacht zu haben.

6. Lehman-Zertifikate und andere Derivate für Kleinanleger*innen

Derivate wurden nicht nur an institutionelle Kund*innen verkauft, sondern auch an Privatpersonen. Allerdings gibt es wenige Staaten, die wie Deutschland einen Direktvertrieb an Privatkund*innen zulassen. Die entsprechenden Produkte sind Inhaberschuldverschreibungen, die als Zertifikate oder Anleihen bezeichnet werden und deren Vertrieb in den 2000er-Jahren zunahm. Erste Regulierungsforderungen werden seit 2007 laut. Doch erst mit der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 entstand eine öffentliche Diskussion, weil die betroffenen Kleinanleger*inn aufgrund des drohenden Totalverlusts der Lehman-Zertifikate empört waren und diese Empörung öffentlich zum Ausdruck brachten.

Es handelte sich meist um ältere Menschen. Entsprechend wurde öffentlich der Begriff „Lehman-Oma“ verwendet. Er wies darauf hin, dass die Häufung von älteren Personen kein Zufall war, sondern einer Vertriebsstrategie entsprach, die insbesondere auf ältere und unkundigere Klientel setzte (in der Branche auch als „A und D“ für „alt“ und „doof“ bezeichnet). Die Unkundigkeit der Zielgruppe machte es leicht, Provisionen zu kassieren. Im Fall der Lehman-Zertifikate handelte es sich bei den Vertriebskanälen insbesondere um die Citibank, teilweise auch Sparkassen. Die Opfer des Lehman-Debakels kamen, soweit sie nicht ungünstige Vergleiche geschlossen hatten, insofern letztlich noch ganz gut weg, als die Insolvenzmasse der Bank später größer ausfiel als zunächst gedacht. So hielten sich die Verluste in Grenzen. Trotzdem haben die wohl 40.000 Lehman-Zertifikate-Kund*innen insgesamt wohl etwa 750.000 Euro verloren.

Es ist davon auszugehen, dass die Frage, welche Zertifikate an die Kund*innen verkauft wurden, nicht zufällig war. Vielmehr wurden offenbar gerade in der Phase, in der sich professionelle Anleger*innen aus dem Geschäft mit der absturzgefährdeten Lehman-Bank zurückzogen, Lehman-Papiere an Kleinanleger*innen verkauft, übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in Hongkong. Entsprechend dürften die Konditionen auch anderer Derivate, die an Kleinanleger*innen verkauft wurden, auch von der Interessenlage der Bank nach Absicherung bestimmter eigener Geschäfte geprägt sein. Weder die Finanzaufsicht noch Staatsanwaltschaften sind dieser Frage bisher systematisch nachgegangen, ob es hier Interessenkonflikte gibt oder Untreue vorliegt.

Bis heute vertreiben Banken in Deutschland Derivate an Kleinanleger*innen. Ein Vertriebsverbot, wie von vzbv und Finanzwende gefordert, stand zwar 2009 kurz zur Diskussion, wurde aber dann auf Druck des Derivateverbands fallengelassen.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten der problematischen Derivate-Geschäfte

Viele Derivategeschäfte – bei Kommunen, Unternehmen wie Privatpersonen – werden mit der Absicherung von bestimmten Risiken begründet. Das Argument ist, dass durch den Einsatz von Derivaten die Risiken der Kund*innen abnehmen.

Dieses Argument ist dann offensichtlich falsch, wenn die Kund*innen letztlich zu Risikonehmer*innen werden, wie das bei vielen Kommunen der Fall war. Hier handelt es sich ganz klar um spekulative Geschäfte, die nicht mehr der Absicherung eines Basisgeschäfts dienen, sondern bei denen zusätzliche, vorher nicht vorhandene Risiken eingegangen werden. Es lässt sich aber auch bei vielen anderen Derivaten im Einzelnen nachweisen, dass es zwar risikomindernde Komponenten gibt. Letztlich sind für die Kund*innen die Risiken aber oftmals nicht mehr einschätzbar, vor allem aufgrund der hohen Komplexität der Produkte.

An dieser Stelle noch etwas anderes: Wenn Konzertveranstalter*innen ein reales Risiko  namens „schlechtes Wetter“ haben, so können sie dieses Risiko vollständig versichern. Es trägt dann ein anderer. Wenn eine verschuldete Kommune oder eine Privatperson, die Geld anlegen will, ihr Portfolio optimieren will, kann sie nicht jedes Risiko vollständig mit Derivaten absichern. Vielmehr kann sie bestimmte Risiken dadurch vermeiden und andere eingehen. Ein Zinsswap mag gut sein zur Absicherung gegen kurzfristige Zinssteigerungen, wenn man ursprünglich einen Kredit mit flexiblem Zins hat. Sollten die Zinsen aber massiv steigen, wird aus dem Vorteil ein Nachteil. Der hessische Rechnungshof hat das sehr klar für Hessen herausgearbeitet, dass es sich beim Derivateeinsatz im Schuldenmanagement oder im Anlagegeschäft nie um eine reine Versicherung handelt, sondern immer um eine Absicherung gegen eine bestimmte Marktsituation unter Inkaufnahme von Nachteilen im Fall einer anderen Marktsituation. Die Argumentation, der Einsatz von Derivaten sei ausschließlich zur Absicherung gegen Risiken erfolgt, ist entweder eine bewusste Irreführung der Öffentlichkeit oder die so Argumentierenden haben den Charakter der Geschäfte selbst nicht verstanden. Denn jedes Portfolio hat bezüglich bestimmter Marktentwicklungen Vor- und Nachteile, auch beim Einsatz von Derivaten.

Auf Finanzmarktseite sind die großen Investmentbanken quasi alle bei den verschiedenen Derivate-Geschäften dabei gewesen:

  • Merril Lynch in Orange County
  • Deutsche Bank in Pforzheim, bei Ille, beim spanischen Weinhändler
  • Goldman Sachs bei Hammerschmidt

Allerdings tauchen bei den kommunalen Zins-Swap-Geschäften auch die WestLB und die SachsenLB auf, also Landesbanken.

Spannender ist die Frage zu stellen, wer eigentlich auf der anderen Marktseite typischerweise vertreten ist.

Viele große Konzerne machen umfangreiche Derivategeschäfte. Sie haben dafür große Stäbe mit qualifizierten Expert*innen. Die Bundesrepublik Deutschland ist am Derivatemarkt aktiv über die Bundesfinanzagentur. Die problematischen Derivate-Geschäfte, die zu Pleiten oder Rechtsstreitigkeiten geführt haben, fanden wesentlich bei mittelgroßen Akteur*innen statt, die einerseits über relevante Ressourcen verfügten oder sich leihen konnten, andererseits aber keine eigene Derivate-Expertise im eigenen Haus hatten. Deshalb folgten sie am Ende oftmals im Wesentlichen dem Rat von Banken. Alle bekannten Kommunen in Deutschland waren mittelgroße Städte – keine Dörfer, keine Großstädte.

Bei den privaten Kund*innen handelt es sich häufig um eher mit Finanzprodukten wenig vertrauten Menschen. Sie legten eher konservativ an, vertrauten aber ihren Berater*innen, um entsprechende Verträge auf deren Empfehlung hin abzuschließen.

In dieses Muster fällt auch das Bundesland Hessen: Es gab keine eigene Expertise im Landesfinanzministerium, vielmehr kaufte man sich diese Expertise über eine Beratungsstruktur von der hessischen Landesbank Helaba ein. Gleichzeitig war das Bundesland Hessen ein attraktiver und solventer Kunde, bei dem es um große Summen ging.

Allen Geschäften auf Seiten der öffentlichen Hand ist gemein, dass adäquate Kontrollinstanzen nicht vorhanden waren. Entweder wurden die Geschäfte im Wesentlichen einer verantwortlichen Person überlassen (Orange County, Pforzheim) oder diejenigen, die Aufsicht führen sollten, waren selbst nicht kundig genug. Das wirft die generelle Frage nach der Kontrollierbarkeit komplexer Finanzgeschäfte auf.

Insgesamt ist die Informationslage zu den Derivategeschäften sehr dünn. Nur die wenigen Fälle, in denen es wirklich zum Bankrott kam und umfangreiche Rechtsstreitigkeiten folgten, sind öffentlich klar nachvollziehbar. In den meisten Fällen war es für die Beteiligten auf beiden Seiten attraktiv, eine gemeinsame Lösung zu finden, die geheim gehalten wurde. Damit mussten weder die Investmentbanken Nachteile fürchten noch die Verantwortlichen auf staatlicher Seite. Niemand wurde in diesen Fällen zur Verantwortung gezogen. In Hessen wurde offenbar der Versuch unternommen, das Thema vor den Landtagswahlen 2019 unter dem Deckel zu halten. Eine Anfrage der Linksfraktion und ein Bericht der „Welt“ verhinderten das dann. Allerdings wurde damals das volle Ausmaß des Problems nicht öffentlich. Das gelang erst durch den Rechnungshofbericht im Dezember 2020.

Häufig wurde als Begründung für die spekulativen Geschäfte herangezogen, sie seien zur Absicherung eingegangen worden. Dabei ist die Trennlinie für die Öffentlichkeit schwer zu ziehen, ob die Verantwortlichen selbst nicht wussten, dass es sich um Geschäfte handelte, die spekulativen Charakter hatten oder ob sie der Öffentlichkeit (und ggf. den Gerichten) diese Version erzählten, um sich selbst zu schützen.