Wie funktioniert Bilanzbetrug?

Welche Stufen durchläuft ein Bilanzbetrug und welche Kontrollinstanzen haben offenbar bei der Prüfung von Wirecard versagt?

24.09.2020
Collage von Händen vor einem Bilanzbuch, die ein Werte fälschen, Geld in der Hand halten und sich die Hände schütteln.
  • Wirtschaftsprüfer*innen werden extra geschult, um Ungereimtheiten in den Zahlen von Unternehmen zu finden. Laut Gesetz müssen sie gegenüber den zu prüfenden Unternehmen skeptisch sein.
  • Wirecard könnte sich einer Standardmethode des Bilanzbetrugs bedient haben, die in Stufen abläuft.
  • Ein ehemaliger Wirtschaftsprüfer hat uns eine Standardmethode für Bilanzbetrug aufgeschrieben und beschreibt die verschiedenen Kontrollinstanzen, die offenbar versagt haben.

1. Stufe

Das Unternehmen erstellt Rechnungen über Leistungen, die nie erbracht wurden. Diese Rechnungen werden, wie jede andere Rechnung auch, als Forderungen aktiviert. Für diesen ersten Akt des Betrugs braucht man lediglich eine*n erfundene*n Kund*in, dem*der man die erfundene Rechnung ausstellt. Das erste Problem für den*die Betrüger*in ist der Umstand, dass diese Rechnungen nicht bezahlt werden, da der*die Kund*in nicht existiert. Die Forderungen bleiben folglich in der Bilanz „hängen“. Um in dieser ersten Phase des Betrugs nicht aufzufallen, muss der*die Betrüger*in dafür sorgen, dass den Wirtschaftsprüfer*innen Saldenbestätigungen (ein Nachweis zum Saldos eines Kontos, damit können Forderungen gegenüber Geschäftspartner*innen geprüft werden) für diese Forderungen vorgelegt werden. Dass Saldenbestätigungen gefälscht sein können, wissen natürlich auch die Wirtschaftsprüfer*innen, deshalb sind von ihnen bestimmte Standards bei der Einholung von Saldenbestätigungen zu beachten. Dazu gehört z.B., dass sie die tatsächliche Existenz des*der Kund*in verifizieren müssen, dass sie selbst die Anforderung der Bestätigung an den*die Kund*in schicken müssen und sicherzustellen haben, dass die Bestätigung von dem*der Kund*in direkt an die Wirtschaftsprüfer*innen erfolgt. Um diese erste Phase des Betrugs zu überstehen, muss der*die Bilanzbetrüger*in schon einiges anstellen, damit die gefälschten Saldenbestätigungen glaubhaft sind. Dass Wirtschaftsprüfer*innen trotz gewissenhafter Prüfung in dieser Phase den Betrug nicht aufdecken, kann passieren und kommt auch immer wieder mal vor.

2. Stufe

Bei fortgesetzten Scheingeschäften steigen die Forderungen immer höher. Die Wirtschaftsprüfer*innen werden dann der Frage nachgehen, warum die Forderungen nicht bezahlt werden. Den Prüfer*innen werden dann meistens mehr oder minder fantasievolle Geschichten erzählt und es werden auch schon mal Forderungen umgeschichtet, damit die einzelnen Forderungen nicht zu alt werden. Viele Betrugsfälle schaffen es über die zweite Stufe nicht hinaus, weil – manchmal allerdings erst nach Jahren - es immer schwerer wird, die steigenden Forderungen zu erklären. Dann wird genauer nachgefragt und hingeschaut und irgendwann platzt der Ballon.

3. Stufe

Wer ein größeres Rad drehen will, muss also das immer weitere Anwachsen der Forderungen verhindern. Das klappt in der Regel nur, wenn Forderungen auch mal bezahlt werden. Dies geschah bei Wirecard offenbar auf zweierlei Weise. Im Ergebnis muss jedenfalls ein Geldeingang auf einem Bankkonto vorgetäuscht oder „anders generiert“ werden. Hinsichtlich des Vortäuschens sind wir bei den Treuhandkonten von Wirecard. Bei einem Treuhandkonto ist der*die Inhaber*in des Kontos nicht der*die Eigentümer*in des darauf liegenden Vermögens. Selbstverständlich müssen die Wirtschaftsprüfer*innen auch für Bankkonten Saldenbestätigungen einholen, und zwar direkt von der Bank, das gilt auch für Treuhandkonten. Sie dürfen sich nicht damit begnügen, sich von dem Unternehmen Kontoauszüge oder ähnliches vorlegen zu lassen. Natürlich können auch Bankbestätigungen gefälscht sein. Aber das aufzudecken ist erheblich leichter als bei den Forderungen aus der ersten Stufe des Betrugs. Als zweiten Ausweg kann man Geldeingänge „generieren“, also die Forderungen begleichen. Dies geschieht typischerweise durch das sogenannte Round-Tripping. Wirecard selbst erschuf hierfür offenbar zahlungswillige Einheiten (also Gesellschaften, vorzugswürdig im fernen Ausland) und versorgte diese mit Finanzmitteln, indem Wirecard zu überhöhten Preisen diverse ausländische Gesellschaften erwarb. Nach übereinstimmenden Presseberichten kaufte Wirecard offenbar u.a. in Indien überteuerte Gesellschaften: Hermes i Tickets, GI Technology, Star Global. Ein Teil des überhöhten Kaufpreises floss dann wohl an Hinterleute und wurde dafür eingesetzt, um die erfundenen Rechnungen zu begleichen. Dafür spricht in der Wirecard-Buchhaltung auch, dass laut Wirecard hinter einzelnen Kundennamen „gebündelte Kunden“ standen. Man konnte so Sammelzahlungen rechtfertigen und die Buchhaltung verschlanken. Im Ergebnis ersetzte Wirecard in der Bilanz also wertlose, erfundene Forderungen mit wertlosen, erfundenem Goodwill (immaterieller Vermögensposten) von erworbenen Gesellschaften. Deswegen wird von Bilanzanalysten ein hoher Anteil von Goodwill in der Bilanz so kritisch gesehen.

Round-Tripping ist also ein klassischer Hinweis für Bilanzbetrug und auf dessen Merkmale hatten bereits die Financial Times und ein EY-Whistleblower 2016 hingewiesen. Der Hinweis auf die fehlenden Gelder bei den Treuhandkonten kam erst später. Dort spricht für ein Versagen von EY, dass die Bank, bei der die Treuhandkonten angeblich geführt wurden, inzwischen mitgeteilt hat, dass weder Wirecard noch einer der Treuhänder*innen bei ihnen überhaupt Kund*innen waren. Zudem soll EY es pflichtwidrig unterlassen haben, sich direkt von den kontoführenden Banken Bestätigungen über die Guthaben der Treuhandkonten geben zu lassen.

4. Stufe

Das vermeintliche Guthaben auf den gefälschten Treuhandkonten kann nicht bewegt werden, weil man gefälschte Guthaben nirgends hin überweisen kann, denn das Konto existiert ja gar nicht. Also wächst das Guthaben auf gefälschten Bankkonten permanent an. Um die Wirtschaftsprüfer*innen zu täuschen, braucht der*die Betrüger*in jetzt noch eine gute Story, warum auf diesen Konten so viel Geld liegt. Auch in diesem Punkt hat sich EY offensichtlich plump täuschen lassen und die Story geglaubt, Wirecard bräuchte das Geld zur Absicherung der Risiken aus der Abwicklung von Kreditkartentransaktionen für Dritt-Partner*innen, weil Wirecard für deren Geschäfte die „wesentlichen Risiken“ trage. Offensichtlich ist EY nicht misstrauisch geworden, obwohl die Treuhandkonten von Jahr zu Jahr exorbitant angestiegen sind. Mit Wachstum lässt sich anscheinend viel erklären.

5. Stufe

Irgendwann muss der*die Betrüger*in von den ständig steigenden Banksalden wieder herunterkommen. Dem dient der letzte Akt – quasi die Kür - des Betrugs durch den Erwerb dubioser Vermögenswerte zu überhöhten Preisen, die dann im Anlagevermögen versauern können. Typischerweise sind das Vermögenswerte, die nur schwer zu fassen sind, z.B. Kundenbeziehungen, Markenrechte, Intellectual Property oder Beteiligungen, bei denen die Veräußerer*innen (also die, die den Vermögenswert an die Erwerber*innen übertragen) meist hinter verschachtelten und dubiosen Fonds in möglichst intransparenten Ländern weit weg von zu Hause versteckt werden. Diese Erwerbe ernsthaft zu hinterfragen, hat – nach allem was bisher bekannt ist – EY nicht einmal versucht. Erst durch die KPMG-Sonderuntersuchung kam ans Licht, dass Wirecard nicht bereit oder nicht in der Lage war, die Veräußerer*innen dieser Vermögenswerte zu benennen.

Wenn der Betrug wirklich dieser Standardbetrugsmethode entspricht, warum hat EY ihn nicht schon viel früher aufgedeckt? Saldenbestätigungen zu prüfen gehört zu den einfachsten Prüfungshandlungen, die Wirtschaftsprüfer*innen vornehmen können und müssen. Dass ihnen dabei gefälschte Unterlagen vorgelegt werden, müssen sie mittels seiner „kritischen Grundhaltung“ immer im Auge behalten. Ein Telefonanruf bei der entsprechenden Bank, und der ganze Schwindel wäre vermutlich aufgeflogen. Dass die Beteiligungserwerbe von Wirecard dubios waren, stand sogar schon in der Zeitung, als EY noch im Bestätigungsvermerk zum Jahresabschluss 2018 behauptete, alles sei in bester Ordnung. Sich dahinter zu verstecken, dass die Abschlussprüfung nicht jeden Betrug aufdecken kann, weil es keine forensische Untersuchung sei, ist angesichts der so typischen Betrugsmethode, der sich Wirecard anscheinend bedient hat, geradezu lächerlich, im besten Fall verzweifelt.

Im schlimmsten Fall – wir wissen es nicht – hat EY in den Jahren bis 2018 gar keine Bankbestätigungen zu den Treuhandkonten eingefordert. In dem Bestätigungsvermerk 2018, der immerhin die Geschäftsbeziehungen mit den sog. „Acquiring-Partnern“ als ein “Key Audit Matter“ adressiert, steht zum Komplex „Treuhandkonten“ kein Wort. Stattdessen hat sich EY mit der mehr akademischen Frage beschäftigt, ob Wirecard die Umsatzerlöse aus den Gebühren für die Transaktionen, die über die Dritt-Partner*innen abgewickelt wurden, vollständig als Erlöse ausweisen darf und im Gegenzug die Gebührenanteile, die die Dritt-Partner*innen für sich behalten, als Aufwand ausweist, oder ob nur der Saldo als Ertrag auszuweisen ist. Materiell ist diese Frage völlig belanglos.

Und wenn EY Saldenbestätigungen eingeholt haben sollte, bleibt die Frage, warum die Fälschung nicht durch interne und externe Kontrollen früher erkannt wurde. Die Arbeit der Wirtschaftsprüfer*innen wird nämlich durch ein gesetzlich vorgeschriebenes, mehrstufiges Kontrollsystem überwacht.

Die erste Kontrollinstanz ist ein*e zweite*r (mit)verantwortliche*r Wirtschaftsprüfer*in, der*die den Bestätigungsvermerk für eine Jahresabschlussprüfung (mit)unterschreibt. Das ist nur dann erlaubt, wenn er*sie „sich über den Prüfungsansatz, den wesentlichen Ablauf der Prüfung, über die wesentlichen und kritischen Fragestellungen im Verlauf der Prüfung und über die Inhalte des Prüfungsergebnisses sowohl im Prüfungsbericht als auch im Bestätigungsvermerk jeweils ein eigenes Urteil bilden“ kann. Diese Kontrolle hat offensichtlich versagt.

Die zweite Kontrollinstanz ist die bei allen Prüfungen von Kapitalmarktunternehmen durch EU-Verordnung vorgeschriebene auftragsbegleitende Qualitätssicherung. Bei dieser Kontrollmaßnahme muss ein*e weitere*r Wirtschaftsprüfer*in, der*die nicht in die Prüfung eingebunden ist, zu dem Ergebnis kommen, dass der*die verantwortliche Prüfungspartner*in „nach vernünftigem Ermessen“ zu dem Prüfungsurteil und den darin enthaltenen Schlussfolgerungen gelangen konnte. Auch diese Kontrolle hat offensichtlich versagt.

Die dritte Kontrollinstanz ist die ebenfalls gesetzlich vorgeschrieben interne Nachschau. Diese Kontrolle findet zwar erst im Nachhinein statt, und natürlich kann nicht jede Prüfung in jedem Jahr einer Nachschau unterzogen werden. Aber bei der Auswahl der Stichprobe für die Nachschau fließen Risikogesichtspunkte ein, so dass davon auszugehen sein sollte, dass im Laufe der letzten Jahre die Abschlussprüfung Wirecard bei EY auch mal in die interne Nachschau einbezogen war. Offensichtlich hat auch diese Instanz versagt oder Wirecard war nie in der Stichprobe der Aufträge, was bei dem gegebenen Risikoprofil wohl auch als ein Versagen zu bezeichnen wäre.

Die vierte Kontrollinstanz ist die Abschlussprüferaufsichtsstelle (APAS), die bei den großen Prüfungsgesellschaften jährlich eine Prüfung durchführt und dabei vergleichbar mit der internen Nachschau u.a. sich die Abwicklung von Prüfungsaufträgen anschaut. Dazu gehört auch die Überprüfung, ob die Prüfungsgesellschaften die auftragsbegleitende Qualitätssicherung und die interne Nachschau ordnungsgemäß durchgeführt haben. Auch die APAS hätte schon vor Jahren die Wirecard-Prüfung ins Visier nehmen können und wahrscheinlich müssen, spätestens wohl bei dem Aufstieg in den DAX. Ob die APAS das getan hat, wissen wir nicht, die Berichte der APAS sind geheim.

Alle vier Kontrollinstanzen haben versagt, und das bei einem offenbaren Standardbetrug durch das Vortäuschen von Bankguthaben. Nicht nur Laien wundern sich, sondern auch Fachleute. Soviel multiple Schlamperei ist eigentlich kaum vorstellbar. Aber bei so vielen Kontrollinstanzen ist andererseits Vorsatz auch kaum vorstellbar.

Es ist zu früh, abschließend über das Versagen der Wirtschaftsprüfer*innen und ihrer öffentlichen Aufsicht im Fall Wirecard zu urteilen. Die Frage, warum EY den Betrug nicht früher aufgedeckt hat und auch der APAS nichts aufgefallen ist, bleibt vorläufig unbeantwortet.

Aber eins darf man nicht zulassen: Sowohl EY als auch das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) versuchen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, indem sie behaupten, gutgemachten Betrug könne man nicht im Rahmen einer Abschlussprüfung aufdecken, auf die entsprechende forensische Untersuchung sei die Abschlussprüfung bisher nicht ausgerichtet gewesen. Das sind Ablenkungsmanöver. Was soll die Prüfung überhaupt, wenn die Wirtschaftsprüfer*innen für sich in Anspruch nehmen, keinen Aufwand betreiben zu müssen, um gefälschte Unterlagen einer „Standardbetrugsmethode“ zu erkennen? Und wie gesagt: Bis zum Beweis des Gegenteils steht zu befürchten, dass EY in der Vergangenheit nicht einmal Saldenbestätigungen direkt von den Banken, bei denen die Treuhandkonten geführt wurden, eingeholt und geprüft hat, jedenfalls hat EY das nicht unter den „Key Audit Matters“ für 2018 erwähnt.

Am 05.10.2020 wurde der Text aktualisiert.