Was haben Autofahrer und die Europäische Zentralbank gemeinsam? Sie müssen sich an geltende Regeln halten! 26.04.2020 Prof. Dr. Harald Bolsinger Prof. Dr. Harald Bolsinger lehrt an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. Gerade in turbulenten Zeiten wie der Corona-Krise spielen Zentralbanken eine wichtige Rolle. Ihre Aktivitäten nehmen zu, um beispielsweise die Märkte zu beruhigen oder die Banken mit Liquidität zu versorgen. In solchen Tagen ist schnelles und entschiedenes Agieren nötig und dennoch sollten Themen wie Nachhaltigkeit nicht komplett in den Hintergrund rücken. Oft werden in Krisen langfristige Stellschrauben gedreht, gerade angesichts der großen Dimension der einzelnen Hilfsmaßnahmen. Es gilt deshalb nun Nachhaltigkeit stärker in die Geschäftspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zu integrieren. Zahllose offene Briefe, Stellungnahmen von Verbänden und Demonstrationen fordern genau das längst von der EZB. Das ist fast so, wie wenn Demonstrantinnen von Autofahrern fordern, am Zebrastreifen für Fußgängerinnen anzuhalten… Absurd? Ja, richtig! Denn die Straßenverkehrsordnung gilt ja bereits. Sie ist einfach nur durchzusetzen, wenn sich Autofahrer nicht daran halten. Dazu gibt es die Polizei. Bei der EZB ist das genauso. Die EU-Grundrechtscharta gilt europaweit bereits seit 2007 - auch für die EZB! Unter Artikel 37 wird dort beispielsweise bezüglich der Umwelt ausgeführt: „Ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität müssen in die Politik der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden.“ Mit der Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens wurde das Ziel, den Temperaturanstieg auf unter 2 Grad zu halten, für die EU völkerrechtlich bindend. Die Berücksichtigung von Grundrechten im Geschäftsverkehr der EZB ist also einfach nur durchzusetzen. Wenn sich die EZB nicht daran halten will, gibt es ja die Polizei, oder? Halt da war doch noch ein kleiner Unterschied: Die Polizei hat in dem Fall nichts zu melden. Wer muss dann dafür sorgen, dass auch die EZB sich an den gültigen normativen Rahmen hält? Die EU-Kommission und das Europäische Parlament! Das Thema ist extrem einfach: Die EZB muss heute schon gesellschaftspolitisch fixierte Faktoren in ihrem gesamten Kerngeschäft zwingend berücksichtigen. Die EZB hat als EU-Institution eine weltweit einzigartige Stellung unter den Zentralbanken inne. Die Verträge von Lissabon machen die EU-Charta der Grundrechte zu direkt anwendbarem Primärrecht in allen europäischen Institutionen. Also auch für die EZB! Alle Tätigkeiten der EZB als europäische Institution müssen daher den kodifizierten Werten der Charta der Grundrechte entsprechen – daran ändert auch die viel beschworene Unabhängigkeitsdefinition im Vertrag über die Funktionsweise der Europäischen Union nichts. Auch die ewige gleiche Argumentation gegen diese Wahrheit – geäußert von Bundesbankpräsidenten über finanztechnokratisch geprägte Professorinnen bis hin zu Politikern – ändert daran nichts! Das Märchen von der scheinbar verwirklichbaren geldpolitischen Neutralität einer Zentralbank wird dadurch nicht wahrer. Politische Akteure sind eben gerade nicht neutral, sondern wurden für einen Auftrag geschaffen, den sie im gegebenen Ordnungsrahmen erfüllen müssen. Auch wenn die EZB natürlich nicht den tagesaktuellen Wünschen einzelner Politikerinnen entsprechen braucht, muss sie dennoch dem Gesetzesrahmen entsprechen, den alle Europäerinnen gemeinsam und verbindlich für alle Organe der EU erlassen haben. Dies ist der nüchterne ordnungspolitische Rahmen, der bereits gilt! Hinzu kommen eben weitere bindende Abkommen wie das Pariser Klimaabkommen, die bezüglich der Nachhaltigkeit ganz konkrete Ziele benennen. Es fehlt nur noch die Umsetzung in Form konkreter Kriterien für Wertpapierportfolios und Markttransaktionen der Zentralbank. Geschäftsbanken, die Nachhaltigkeit auch nur ansatzweise auf dem Schirm haben, gehen bereits seit vielen Jahrzehnten so vor: sie machen keine Geschäfte mit Dritten, die gegen eine definierte Mindestmoral verstoßen. Was wäre los, wenn die EZB Geschäfte mit der Mafia machen würde? Wäre das durch ihre vermeintliche Unabhängigkeit gedeckt? Nein! Was ist los wenn die EZB Geschäfte mit Firmen macht, die gezielt die Umwelt schädigen, Kinderarbeit in der Lieferkette zulassen oder gar Menschenrechte mit Füßen treten? Die Artikel 37, 32 und 5 der Grundrechtscharta sollen genau das verhindern! Ein Organ der EU darf keine Geschäfte mit solchen Unternehmen machen - auch nicht durch den Besitz von deren Wertpapieren. Die EZB (bzw. die jeweilige nationale Zentralbank als Erfüllungsgehilfin) wird als Pfandgläubigerin notenbankfähiger Sicherheiten aber genau Besitzerin solcher Wertpapiere. Die Kriterien, wann Sicherheiten notenbankfähig sind, bestimmt die EZB selbst. Sie müsste für diesen billionengroßen Markt zwingend auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union mit berücksichtigen . Ebenso im Rahmen ihrer Wertpapierankaufprogramme. Der Handel und Besitz von Wertpapieren, welche die Charta der Grundrechte der Europäischen Union untergraben, schadet der Europäischen Union. Für eine europäische Institution wie die EZB ist dies nicht hinnehmbar und kann auch nicht durch geldpolitische Unabhängigkeit gerechtfertigt oder gar begründet werden. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass die EZB in ihrem Finanzierungsgebaren europäische Werte in Form der Grundrechte aktiv bewahrt und fördert, zumindest aber die Werte der europäischen Grundrechtscharta in ihrem Kerngeschäft nicht verletzt. Auf dem Weg zu einem nachhaltigen europäischen Finanzsystem steht die Achtung von Grundrechten im Geschäftsgebaren am Beginn aller Initiativen. Wenn sich die EZB als Vorbild im Rahmen der ohnehin für Sie verpflichtenden Grundrechtscharta bewegt, strahlt das auf alle Finanzmarktakteure ab. Doch es ist wie im Straßenverkehr. Wenn der Autofahrer einfach den Zebrastreifen überfährt, obwohl ein Fußgänger über die Straße will, geschieht so lange nichts, bis der Autofahrer im wahrsten Sinne des Wortes von der Polizei eingebremst wird. Wenn die EZB einfach Wertpapiere ankauft, welche die Charta der Grundrechte der Europäischen Union untergraben, geschieht erst mal gar nichts. Bis sie eingebremst wird von EU-Kommission und dem Europäischen Parlament. Wenn die Polizei nicht sicherstellt, für was sie geschaffen wurde, muss man bei ihr genauso ansetzen wie beim ignoranten Autofahrer. Der juristische Weg einer Untätigkeitsklage und/oder Nichtigkeitsklage wäre dazu eine Option. Doch einfacher wäre es, wenn zunächst die EZB vom EU-Parlament umfassend gefragt würde, ob und wie sie sicherstellt, dass ihre Geschäfte nicht gegen die Grundrechtscharta verstoßen . Transparenz gegenüber dem Europäischen Parlament und die sicher darauffolgende Empörung würden den erste Schritt zur Einhaltung selbstverständlicher Regeln bedeuten . Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Gastbeitrag im Finanzwende-Blog. Die jeweiligen Autoren geben nicht zwangsläufig Finanzwende Positionen wieder.