10 Prinzipien für eine nachhaltige Erholung

EU-Aufbau- und Resilienzpläne in der Covid-19-Krise: Wie wir aus dem Wiederaufbau der Wirtschaft einen Neuanfang machen können

14.10.2020
Thierry Philipponnat

Leiter Recherche und Advocacy bei Finance Watch

Fußgänger, Waldweg, Ärzteteam und dem europäischen Kontinent mit EU-Flagge hinter türkisem Filter. Kohleabbau mit rotem Filter.
  • Der zentrale Fonds des EU-Wiederaufbauplans (RRF) fördert in seiner derzeitigen Ausrichtung vor allem das kurzfristige Wirtschaftswachstum
  • Für eine dauerhafte Erholung muss die gesamte RRF sich der Unterstützung ausschließlich nachhaltiger Aktivitäten widmen – und diese müssen klar definiert werden
  • Staatshaushalte sollten insgesamt auf Nachhaltigkeit bewertet werden

Unsere europäische Schwesterorganisation Finance Watch hat Anfang Oktober 2020 einen Leitfaden[1] veröffentlicht, wie die derzeit diskutierte Aufbau- und Resilienzfazilität (Recovery and Resilience Facility, RRF)[2] zu einem wirksamen Instrument des Wirtschaftsaufschwungs in einem nachhaltigen und gerechten Übergang gemacht werden kann. Die folgenden "10 Prinzipien für eine nachhaltige Erholung" sollen dabei helfen, die Ziele der Erholung und der Widerstandsfähigkeit, die derzeit in den Konjunkturplänen der EU im Widerspruch stehen, wieder in Einklang zu bringen.

1.   Resilienz zur Vermeidung zukünftiger Disruptionen

Die Covid-19-Krise hat uns gezeigt, wie störungsanfällig unser Wirtschaftssystem ist und wie sehr wir Disruptionsrisiken ausgesetzt sind. Aber der vom Menschen verursachte Klimawandel wird wahrscheinlich noch wesentlich mehr Zerrüttung mit sich bringen als diese und künftige Pandemien – von Dürren, Waldbränden und großen klimabedingten Migrationsströmen, bis hin zu Kämpfen um den Zugang zu Frischwasser und Nahrung, steigenden Meeresspiegeln, Wirbelstürmen und vielem mehr.

Die Covid-19-Krise hat bestätigt, was wir bereits wussten: Die Weltwirtschaft so weiterzuführen wie vor der Pandemie und gleichzeitig eine nachhaltige Zukunft für die Welt aufbauen zu wollen, ist unvereinbar. Der drastische konjunkturelle Einbruch – die Weltwirtschaftsleistung sank um 5,2%, wobei viele Orte noch härter getroffen wurden – brachte eine Reduzierung der globalen CO2-Emissionen um 8%. Die Lektion ist klar: Es ist möglich, die CO2-Emissionen zu senken, aber dafür müssen sich die Dinge ändern.

2.   Die Aufbau- und Resilienzfazilität: mehr Erholung als Widerstandsfähigkeit

Das 750 Milliarden umfassende COVID‑19-Aufbaupaket der EU namens ‚Next Generation EU‘ (NGEU) beinhaltet in seinem Kern eine Aufbau- und Resilienzfazilität (‚Recovery and Resilience Facility‘, kurz RRF), durch die umfassende finanzielle Unterstützung für öffentliche Investitionen und Reformen bereitgestellt wird.

Leider sieht es derzeit danach aus, dass dieser zentrale Fonds des Wiederaufbauplans in erster Linie das kurzfristige Wirtschaftswachstum fördern und ein "Business as usual" wiederherstellen soll. Resilienz und Nachhaltigkeit stehen an zweiter Stelle. Das Ergebnis ist ein Erholungs-Resilienz-Paradoxon: ein Wiederaufbau des "Business as usual" macht die Wirtschaft nicht widerstandsfähig.  Doch das ließe sich ändern.

3.   Förderung nachhaltiger Aktivitäten, einschließlich Übergangs- und Stützungsaktivitäten

Für eine dauerhafte Erholung muss die gesamte RRF sich der Unterstützung nachhaltiger Aktivitäten widmen und diese müssen klar definiert werden. Erstaunlicherweise verweist der Vorschlag für eine Verordnung zur Einrichtung einer Aufbau- und Resilienzfazilität nicht auf die EU-eigene Taxonomie-Verordnung, deren Klassifikationssystem für ökologisch nachhaltige Wirtschaftstätigkeiten einen wirksamen und nützlichen Rahmen für die RRF bieten könnte. Insbesondere die Aufnahme von Übergangs- und Stützungsaktivitäten (zusätzlich zu kohlenstoffarmen Aktivitäten) in die Taxonomie macht sie für die RRF geeignet.

4. (Überhaupt) keine nicht-nachhaltigen Aktivitäten fördern

Die Förderung nicht-nachhaltiger Aktivitäten würde den Bemühungen zur Förderung nachhaltiger Aktivitäten direkt entgegenwirken (und die dafür gewährten Kredite und Zuschüsse verschwenden) und zu einem dreifachen Verlust führen: baldiger Geldverlust, damit zusammenhängende ebenfalls baldige Arbeitsplatzverluste und schließlich die künftige wachsende Zerrüttung der Gesellschaft.

5.   Menschen unterstützen, was auch immer es koste

Das Verschwinden nicht-nachhaltiger Aktivitäten wird auch zum Verschwinden von Arbeitsplätzen führen. Das Geld sollte für Umschulungen ausgegeben werden, aber auch für die Unterstützung derjenigen, die sich nicht umschulen lassen können. Das könnte in Form eines garantierten Einkommens geschehen, das ausreicht, um die Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten.

6.   Klare Definition von 'grün' und ‚nicht erheblich beeinträchtigend‘

Die NGEU und die RRF haben sich zum Ziel gesetzt, mindestens 30% "grün" zu sein, wobei der Grundsatz „keiner erheblichen Beeinträchtigung“ gelten soll. Auch hier sollte die Taxonomie-Verordnung für eine klare Definition verwendet werden. Zunächst sollte "nachhaltig" (wie in der Taxonomie-Verordnung definiert) "grün" ersetzen. Zweitens sollte die in der Taxonomie-Verordnung entwickelte Logik angewendet werden, dass nur solche wirtschaftlichen Aktivitäten unterstützt werden, die keine erheblichen Beeinträchtigungen der anderen Umweltziele verursachen.

7.   Aufbau- und Resilienzpläne der Mitgliedstaaten im Hinblick auf Nachhaltigkeit bewerten

Der Europäische Rat hat erklärt, dass "grundsätzlich alle Ausgaben der EU mit den Zielen des Übereinkommens von Paris vereinbar sein sollten" – dies wurde jedoch nicht als Kriterium der Europäischen Kommission für die Beurteilung der nationalen Aufbau- und Resilienzpläne aufgenommen. Das sollte es aber. Der gesamte Haushalt eines Landes sollte bewertet werden und nicht nur die wenigen Projekte, die für die RRF vorgeschlagen werden – alles andere könnte eine Verschwendung von Steuergeldern und widersprüchliche Staatsausgaben bedeuten. Genauer gesagt sollten die Staatsetats nach dem Grundsatz „keiner erheblichen Beeinträchtigung“ beurteilt werden. Insbesondere Subventionen für fossile Brennstoffe müssen als unvereinbar mit der Ausrichtung des RRF-Fonds betrachtet werden.

8.   Stimmigkeit zwischen Ressourcen und der Verwendung von Erlösen

Die Ermächtigung der Europäischen Kommission, bis zu 750 Milliarden Euro an Krediten für die NGEU aufzunehmen, war ein Fortschritt für die gesamteuropäische Solidarität. Die Art dieser Kreditaufnahme sollte jedoch mit den Zielen der Fazilität im Einklang stehen. Das Ziel der Kommission, 30 % über grüne Anleihen bzw. Green Bonds zu finanzieren, ist viel zu niedrig angesetzt. Es gibt keinen Grund, nicht 100 % des Geldes über grüne Anleihen aufzunehmen. Es ist auch unbedingt erforderlich, dass die EU ihre eigenen (noch zu verabschiedenden) Standards für grüne Anleihen anwendet. Bei allen Geldern, die nicht über grüne Anleihen aufgenommen werden, sollte klar ersichtlich sein, inwieweit sie mit der EU-Taxonomie übereinstimmen.

9.   Reform der wirtschaftspolitischen Steuerung auf EU-Ebene, um Nachhaltigkeit zu verankern

Der Rahmen für die wirtschaftspolitische Steuerung der Europäischen Union bedarf dringend einer Überarbeitung, insbesondere im Hinblick auf die finanzpolitischen Regeln. Die haushaltspolitischen Zwänge in der Eurozone haben nach der Finanzkrise zu Sparmaßnahmen beigetragen, die viel Schaden angerichtet haben. Jetzt machen sie mehr denn je keinen Sinn und sind angesichts der Covid-Krise zu Recht ausgesetzt worden. Sie sollten ganz und gar abgeschafft werden. Künftige öffentliche Defizite und Schuldenstände werden zwangsläufig über den Schwellenwerten von 3% und 60% liegen. Denn entweder haben die öffentlichen Stellen massiv investiert, was nötig ist, um eine nachhaltige und gerechte Gesellschaft aufzubauen, oder aber die Wirtschaft ist zusammengebrochen, weil dies unterlassen wurde.

10. Geld kann auf Bäumen wachsen (für Staaten)

Die Abschaffung der haushaltspolitischen Zwänge in der EU bietet sich aktuell erst recht an, da die Regierungen sich mit niedrigen oder sogar negativen Finanzierungskosten Kredite beschaffen können, während die Inflation ebenfalls hartnäckig niedrig oder sogar negativ ist (und die anhaltende Rezession den Deflationsdruck wahrscheinlich noch verstärken wird). Angesichts der dringenden Notwendigkeit unsere Volkswirtschaften umzugestalten, ist es jetzt an der Zeit, Kredite aufzunehmen und in einen gerechten, grünen Übergang für eine nachhaltige Zukunft zu investieren.

Fazit

Die politischen Entscheidungsträger können noch eine Kurskorrektur vorzunehmen und die Erholung der EU auf einen nachhaltigen Pfad zu bringen. Hoffentlich ergreifen sie diese Chance. Denn es sieht ganz danach aus, dass unsere Antwort auf die Corona-Pandemie darüber entscheiden wird, ob wir die nächsten großen Herausforderungen der Menschheit meistern werden.


[1] Finance Watch, 10 Principles for a Sustainable Recovery, October 2020; URL: https://www.finance-watch.org/wp-content/uploads/2020/10/FW-report_10-Principles-for-a-sustainable-recovery_Oct2020.pdf

[2] Europäische Kommission, Vorschlag für eine Verordnung zur Einrichtung einer Aufbau- und Resilienzfazilität,

COM(2020) 408 final, 2020/0104 (COD); URL: https://ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2020/DE/COM-2020-408-F1-DE-MAIN-PART-1.PDF