Raus aus der Dauerkrise

Appell für einen transformativen Politikansatz

14.05.2020
Eine Hand, die im Meer versinkt und von Viren umgeben ist, greift zur Rettung nach einer anderen Hand.

Die globale Covid-19-Pandemie und die zu ihrer Eindämmung notwendigen Maßnahmen haben beispiellose soziale und wirtschaftliche Konsequenzen. Das zeigt einmal mehr, wie krisenanfällig unsere Gesellschaft ist. Milliarden von Menschen machen sich Sorgen um ihre Gesundheit, ihre Arbeitsplätze und ihr Einkommen. Um den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen und einen finanziellen Kollaps zu verhindern, mussten Regierungen und Zentralbanken so massiv intervenieren, wie nie zuvor. 

Dieser Schock trifft auf ein instabiles Wirtschaftssystem, welches die Nachwehen der Finanz- und Eurokrise noch nicht überwunden hat. Er erfolgt außerdem inmitten der sich verschärfenden Klimakrise. Seit über einem Jahrzehnt leben wir in einem Zustand ständiger Krisen. Doch warum sind wir noch immer so schlecht auf neue Schocks vorbereitet?  

Finanzielle, ökologische und gesundheitliche Krisen werden fälschlicherweise oft mit unvermeidbaren "Naturkatastrophen" verglichen, die sich unserer Kontrolle entziehen. Zwar können wir Schocks wie einen neuartigen Virus oder eine Finanzblase nicht völlig vermeiden, doch ob sich diese zu wirtschaftlichen und sozialen Krisen entwickeln, liegt in unserer Hand. Inmitten einer Krise können wir uns nicht darauf beschränken zu reagieren und zu improvisieren. Angesichts des letzten Jahrzehnts steigender Ungleichheit und der bereits eingetretenen Klimakrise brauchen wir eine zukunftsfähige Politik der Resilienz.

Eine solche Politik muss sich mit der rechtzeitigen Identifikation von Risiken und damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Prozessen befassen. Sie muss unsere Gesellschaft und Wirtschaft in die Lage versetzen, auftretende Schocks zu bewältigen und daraus robuster,  nachhaltiger und gerechter hervorzugehen.

Wir können krisenfeste Systeme schaffen

Das Auftauchen neuartiger Viren ist ein natürliches Phänomen. Doch wenn wir mit der hochgezüchteten Landwirtschaft den Lebensraum von wilden Tieren immer weiter einschränken, steigt die Gefahr, dass die Tiere und ihre Viren uns immer näher kommen und auf den Menschen überspringen. Die Auswirkungen der daraus resultierenden Pandemie hängen vom menschlichen Handeln ab. Die unterschiedlichen Reaktionen einzelner Länder auf das Virus sind bereits sichtbar. Die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus verbreitet, und wie viele Menschenleben es fordert, sind Dinge, die wir weitgehend kontrollieren können.

Ein Mann guckt mit Ferngläsern in Richtung des Betrachtenden.

Der anhaltende Klima-Notstand ist omnipräsent. In den letzten Jahren gab es verheerende Buschfeuer in Australien und den Vereinigten Staaten, Dürren in Europa und vielerorts Überschwemmungen. Diese Ereignisse lassen sich nicht völlig vermeiden, aber die enorme Menge an Kohlenstoff, die unsere Volkswirtschaften verbrennen, macht sie wahrscheinlicher. Auch das können wir kontrollieren.

Die Finanzkrise von 2008 hat unser Wirtschaftssystem als instabil und verwundbar entlarvt und ist zu einem großen Teil auf unzureichende Regulierung zurückzuführen. Die Aktienmärkte haben ein Jahrzehnt enormer Gewinne hinter sich, während sich durchschnittliche Haushaltseinkommen kaum erholt haben. Die Sparpolitik der öffentlichen Hand und die Zunahme prekärer Beschäftigung in systemrelevanten Berufen wie der Pflege hat außerdem unseren Sozialstaat weniger resilient gemacht. Finanzielle Schocks wird es immer wieder geben, aber es ist schwache Regulierung, die sie wahrscheinlicher macht und die Auswirkungen für die Realwirtschaft verstärkt.

Jede Krise hat ihre spezifischen Ursachen. Sie alle haben jedoch auch Gemeinsamkeiten, die in unserer aktuellen Art des Wirtschaftens und unseren politischen Prozessen angelegt sind. 

  • Kurzfristige Erträge werden gegenüber langfristiger Resilienz priorisiert. Unser System vernachlässigt die Entwicklung einer krisenfesten Infrastruktur. Langfristige Investitionen werden nach wie vor hinten angestellt. Die Deregulierung der Arbeitsmärkte hat zu einer Zunahme prekärer Beschäftigung geführt und die Haushaltseinkommen extrem krisenanfällig gemacht.
  • Primat des Wirtschaftswachstums anstelle des Gemeinwohls. Das Austeritätsparadigma führt zu einer Unterfinanzierung und Privatisierung der öffentlichen (Gesundheits-)Infrastruktur. Der Anstieg der Vermögens- und Einkommensungleichheit und das stärkere Wachstum von Kapitalerträgen gegenüber der realen Wirtschaft hat den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt erodiert und große Teile der Bevölkerung verwundbarer gemacht.  
  • Die Dominanz einflussreicher Einzelinteressen bei der politischen Entscheidungsfindung. Häufig dienen Politiken nicht dem Gemeinwohl, sondern richten sich nach einflussreichen Einzelinteressen. Dabei werden wissenschaftliche Ratschläge zu möglichen Risiken ignoriert. 
Wirtschaftspolitik auf Irrwegen 

Die Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte hat falsche Prioritäten gesetzt, doch auch nach der Finanzkrise von 2008 sind wir zur Tagesordnung übergegangen. Das darf diesmal nicht passieren. Sparmaßnahmen und unzureichende Regulierung zeigen, dass aus den Fehlern der Krise nicht gelernt wurde. Die Resilienz des Systems verharrte so auf einem niedrigen Niveau, es gab und gibt kaum Puffer für etwaige Schocks. So blieben viele Probleme auch vor Corona bestehen. Noch im Dezember 2019 wurden in Italien und Deutschland Banken gerettet.

Die Indoktrinierung des Effizienz-Gedankens durch unser Wirtschaftssystem hat zur Deregulierung der Arbeitsmärkte geführt, zu niedrigeren Sozialversicherungsstandards und geringem  Reallohnwachstum. Haushalte mit niedrigem Einkommen sind häufig nicht in der Lage eine eiserne Reserve anzulegen. Die steigende Ungleichheit hat die Krisenanfälligkeit der Gesellschaft erhöht.

Angesichts dieser Erfahrungen ist klar, dass eine progressive Politik der Resilienz ganzheitlich sein muss. Unser Wirtschaftssystem ist instabil und unsolidarisch. Es ist anfällig für mehrere Formen von systemischen sozioökonomischen Krisen - finanziell, ökologisch oder durch Pandemien. Und die Krisen sind alle miteinander verbunden. Vor 2020 haben wir begonnen, die Möglichkeit zu untersuchen, dass die Klimakrise eine Finanzkrise auslösen könnte. Wir sehen jetzt, dass eine Pandemie auch eine Wirtschaftskrise auslösen kann, die wiederum finanzielle Turbulenzen mit sich bringt.

Der vordere Ausschnitt eines Fahrradfahrers, sodass man den Lenker und Arme sieht.
Ein transformativer Politikansatz

Wir müssen nicht nur aus der gegenwärtigen Pandemie, sondern aus der Dauerkrise lernen. Eine transformative Politik kann den Weg zu einem stabilen und resilienten System ebnen, indem sie Schwachstellen verringert und in Krisenprävention investiert. Wir brauchen eine präventive Politik, um künftigen Risiken offen zu begegnen, und wir brauchen Institutionen, die diese überwachen und bewerten.

Wir sind der Auffassung, dass ein zentrales Leitprinzip für die politische Entscheidungsfindung Resilienz sein sollte.

Wir müssen besser auf Krisen vorbereitet sein und ein Gleichgewicht zwischen Effizienz und Resilienz finden. Das bedeutet:

Reduzierung des Risikos der Klimakrise: indem wir einen entscheidenden Schritt in Richtung Klimaneutralität machen, d.h. eine rasche Beschleunigung unserer Pläne zur Erreichung der Pariser Klimaziele.

Reduzierung des Risikos von Pandemien: durch die Vorbereitung auf Pandemie-Szenarien, Investitionen in unser Gesundheitssystem inklusive Notfallkapazitäten, die Reform unseres hochgezüchteten Agrarsystems und die Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung.

Reduzierung des Risikos von Finanzkrisen: durch höhere Eigenkapitalvorschriften und strengere Regulierung des Schattenbankensystems, eine Finanztransaktionssteuer, die Verringerung der Größe des Finanzsektors im Verhältnis zur Realwirtschaft und die Ausrichtung an Nachhaltigkeitszielen.

In allen drei Bereichen ist die Führung demokratisch legitimierter Regierungen unverzichtbar. Wir müssen in der Lage sein, Ressourcen zu mobilisieren und für öffentliche Zwecke einzusetzen, wobei öffentliche Institutionen, einschließlich der Zentralbanken, nach klar definierten Prozessen zusammenarbeiten müssen. Für eine progressive Politik der Resilienz braucht es ein progressives Steuersystem, eine wesentlich höhere Besteuerung von Vermögen, gerechtere Regeln für die Besteuerung multinationaler Unternehmen und von Offshore-Vermögen. Die Steuereinnahmen müssen ein Vehikel für öffentliche Investitionen sein, um künftige Klimarisiken zu mindern und Kapazitäten im Gesundheitssystem aufzubauen. Unter den heutigen Umständen ist die zunehmende Staatsverschuldung ein legitimes Instrument zur Finanzierung der öffentlichen Politik.

Aufruf 

Einige Leute sagen heute, dass wir die Covid-19-Krise jetzt lösen müssen und uns danach um alles Weitere kümmern. Wenn wir so handeln, verpassen wir die Chance aus der gegenwärtigen Krise so herauszukommen, dass wir die weiteren großen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen können. Es macht keinen Sinn, weiter von einer Krise zur nächsten zu stolpern. Jetzt ist die Zeit für eine zukunftsfähige Politik der Resilienz - für die Transformation unseres Wirtschafts- und Sozialsystems. Wir setzen uns dafür ein, unser System resilienter zu machen und sicherzustellen, dass politische Entscheidungsträger entschlossen handeln, um das Risiko künftiger Krisen zu verringern.

Hinweis: Dieser Beitrag erschien zuerst am 14.05.2020 auf Spiegel Online.

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